Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallzüchtung DGKK am 7.3.2012 in Freiberg/Sachsen
Überlegungen zur Fördersituation der Materialwissenschaften im Allgemeinen und der Kristallzüchtung im Besonderen
Albrecht Winnacker
Centre for Advanced Materials CAM Universität Heidelberg
Lehrstuhl Werkstoffe der Elektronik und der Energietechnik
der Universität Erlangen
Bei dem Stichwort „Situation der Kristallzüchtung“ kommen den meisten von uns gewisse Probleme in den Sinn: Probleme der Förderung, Probleme der Sichtbarkeit und Außenwirkung, Probleme der Ausbildung, vielleicht auch der Abgrenzung (was gehört eigentlich alles dazu?). Darüber wollen wir in dieser Sitzung, so offenbar der Wunsch der Organisatoren, etwas nachdenken und diskutieren. Wir sind den Organisatoren zu Dank verpflichtet, dass sie dieses für unser Fach und - wie wir überzeugt sind – für die Technologieentwicklung in Deutschland und für unsere DGKK wichtige Thema auf die Tagesordung genommen haben. Meinen Auftrag sehe ich darin, einen Startpunkt für eine Diskussion über die genannten Punkte zu markieren.
1. Fördersituation
Wenn wir den Verlautbarungen aus Politik und Wirtschaft glauben, müsste uns an sich um die Werkstoffforschung generell in Deutschland nicht bange sein.Im Rahmenprogramm des BMBF „Werkstoffinnovationen“ für Industrie und Gesellschaft – WING“ heißt es gleich zu Beginn: „Es scheint kaum etwas zu geben, was die Gesellschaft so prägt wie die Technik, und kaum etwas, was die Technik so prägt wie der Werkstoff.“ Und einige Sätze weiter: „Die Materialforschung – zusammen mit den relevanten Gebieten der Chemie, der Nanotechnologie und der Verfahrenstechnik – kann deshalb in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Neuartige Werkstoffe wirken in der Industriegesellschaft zunehmend als Wegbereiter für Wohlstand und Arbeitsplätze und verbessern die Wettbewerbsfähigkeit technologieorientierter Unternehmen.“
Ich denke, es fällt nicht schwer, in diesem Kreise schon gar nicht, auch die Kristallzüchtung als Motor von Innovationen zu sehen. Sie kann mit einigen überzeugenden Belegen dafür aufwarten!
1.Auf der Basis der nitridischen Halbleiter AlN, GaN und InN können jetzt blaue und effiziente grüne Leuchtdioden hergestellt werden und damit über Konversionsleuchtstoffe auch weiße. Das hat große Bedeutung für die Technologiefelder Displays und Lighting. Halbleiterlaser sind bis in den blauen Spektralbereich hinein verfügbar. „Blueray“ ist auch unter wirtschaftlichem Gesichtspunkten ein wichtiges Ergebnis dieser Entwicklung. Es gibt Anzeichen dafür, dass nach dem Verbot der Glühlampe die Generation der Energiesparlampen wegen gravierender Probleme weitgehend übersprungen werden wird und wir direkt in das Zeitalter der LED- und OLED-Beleuchtung übergehen, letzteres übrigens auch das Ergebnis von Materialentwicklung.
2. Für das Hybridauto – das Elektroauto lassen wir als ferne Zukunftsvision einmal außen vor – spielt die Leistungselektronik und mit ihr das SiC eine bedeutende Rolle. Auch für die Hochtemperaturelektronik und für hohe Frequenzen bietet SiC ein bedeutendes Potential, das mit der immer besseren Verfügbarkeit des Materials auch zunehmend genutzt werden wird. Die 6-Zoll-Scheibe steht vor der Einführung, ein Triumph der Kristallzüchtung.
3. Selbst im Zusammenhang mit dem Si, dem Klassiker, gibt es noch kristallzüchterische Innovationen von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Denken Sie an die stürmische Entwicklung im Bereich des Solarsiliziums, die wir gerade hier in Freiberg vor Augen haben.
Das sind spektakuläre Beispiele. Von Herrn Professor Rudolph[1] hörte ich gestern die Idee, man solle einmal ein modernes Auto oder ein Flugzeug darstellen und markieren, wo darin überall Kristalle eine Rolle spielen. Es käme wahrscheinlich eine eindrucksvolle Darstellung der technisch-wirtschaftlichen Bedeutung der Kristallzüchtung heraus.
Das Rahmenprogramm des BMBF und entsprechende Verlautbarungen haben also recht, wenn sie in der FuE der Funktionsmaterialien ein hohes wissenschaftliches und zugleich wirtschaftliches Interesse sehen, und die Kristallzüchtung als Teilgebiet darf das besonders auch für sich in Anspruch nehmen und muss das in ihrer Außendarstellung auch zur Geltung bringen.
Dennoch muss man zunächst einmal als Problem feststellen:
Reine Materialentwicklung und -herstellung ist selten wirtschaftlich rentabel.
Auch das Rahmenprogramm kommt zu dieser Diagnose, die so glaube ich, an den Kern der Förderproblematik rührt: Investitionen in die Materialforschung, so heißt es dort haben häufig einen grundsätzlichen Nachteil. Vielfach partizipiert der Werkstoffhersteller nur geringfügig an der späteren, oft hohen Wertschöpfung im Bauteil bzw. System, obwohl bei ihm der überwiegende FuE-Kostenanteil anfällt. Zudem benötigt der Markt meist nur geringe Werkstoffmengen, insbesondere bei Funktionswerkstoffen und Schichtmaterialien. Dies sind gravierende Investitionshemmnisse. Sie müssen durch partnerschaftliche Kooperationen in den Forschungsprojekten oder durch eine spätere Erfolgsbeteiligung überwunden werden.
In diesem Zitat ist richtig das Problem angesprochen, dass der Werkstoff in der Regel nur die unterste Stufe der Wertschöpfungskette darstellt. Das Beispiel des Halbleitermaterials SiC soll die Situation illustrieren. An der Basis der Wertschöpfungskette steht die Herstellung von SiC-Einkristallen und den daraus geschnittenen Scheiben („Wafern“), wie sie beispielsweise von der Cree Corporation in den USA und der SiCrystal AG in Deutschland (Erlangen, jetzt Nürnberg) für den Weltmarkt geliefert werden. Auf der Basis dieses Werkstoffs stellen dann Bauelementlieferanten wie ehemals die SICED GmbH Erlangen oder die Infineon AG Bauelemente wie Schottkydioden oder Schaltelemente für hohe Ströme und Spannungen her. Diese Bauelemente wiederum sind Bestandteile von Systemen in Werkzeugmaschinen, Automobilelektronik und Antrieben, wie sie von großen Systemhäusern wie Siemens und Bosch auf den Markt gebracht werden. Hier ist in Zukunft mit starkem Einsatz von SiC-Komponenten zu rechnen.
Das Problem für die Entwicklung der neuen Funktionsmaterialien liegt nun oft darin, dass die Industrie in Deutschland in der Regel nicht entlang der gesamten Wertschöpfungskette integriert ist, wie das beispielsweise in Japan häufig der Fall ist. Vielmehr werden die einzelnen Stufen der Wertschöpfungskette von getrennten Herstellern abgedeckt. Wieder sollen die Verhältnisse am Beispiel des SiC-Marktes illustriert werden. Die Firma Cree Corporation in den USA ist Hersteller des Grundmaterials SiC und der darauf basierenden Bauelemente zugleich. Die Firma SiCrystal AG in Nürnberg liefert ausschließlich das Grundmaterial, das dann vom Bauelementhersteller und weiter vom Systemhaus genutzt wird. Auch andere Halbleiterhersteller, wie FCM hier in Freiberg, verfolgen dezidiert diese Strategie, welcher der Gedanke zugrunde liegt, man solle nicht Konkurrent der eigenen Kunden sein. Die Konsequenz dieser fehlenden vertikalen Integration ist, dass die Herstellung auf jeder Stufe rentabel sein soll. Für die Materialentwicklung und –herstellung ist dies aber eine sehr problematische und in Grunde auch sachfremde Forderung. Die Materialherstellung selbst stellt eine Schlüsseltechnologie dar, die in der Regel nur ein kleines Marktvolumen repräsentiert, auf dem u.U. ein um Größenordnungen umfangreicherer Markt aufbaut. Insofern ist die Forderung, dass die Materialentwicklung und –herstellung selbst rentabel sein soll, eigentlich unsinnig. Ihre Rentabilität muss aus der Rentabilität der Bauelemente und der darauf aufbauenden Systeme gespeist werden.
Hinzu kommt, dass die Materialforschung sich häufig in einem anderen Zeitmaßstab vollzieht als die Produktentwicklung. Sie ist häufig Vorfeld- und Grundlagenforschung von entsprechend langfristigem Charakter.
Diese Situation der Materialforschung, die insbesondere auch auf die Kristallzüchtung weitgehend zutrifft, ist im Zitat aus dem Rahmenprogramm an sich richtig wiedergegeben, es werden aber nicht konsequent die Folgerungen daraus gezogen, wenn es zum Schluss nur heißt: Dies sind gravierende Investitionshemmnisse. Sie müssen durch partnerschaftliche Kooperationen in den Forschungsprojekten oder durch eine spätere Erfolgsbeteiligung überwunden werden.
Das BMBF fördert letzten Endes Systeme. Die Glieder am oberen Ende der Wertschöpfungskette sind die Systemfirmen, Siemens, Bosch, die Automobilfirmen, Kommunikationsfirmen. Die „partnerschaftliche Kooperation“ mit dem Bauelement-Hersteller oder gar dem „Systemhaus“, die im Rahmenprogramm postuliert wird, gelingt selten, wie viele von uns hier aus eigener Erfahrung bestätigen können. Diese – die Bauelementhersteller und „Systemhäuser“- müssten ja einen Teil der Förderung teilen und setzen diesem bedauerlichen Opfer die Erwartung entgegen, dass das Material schon irgendwie vom Himmel fällt. Die Vorstellung gar, die Firma Osram könne mit einem Entwickler und Hersteller von GaN ein Abkommen über eine spätere Erfolgsbeteiligung schließen, übersteigt meine Phantasie, nicht aber offenbar die eines Ministerialrats im BMBF, offenbar ein mit stärkerer Phantasie begabter Berufstand! Die öffentlichen Fördereinrichtungen müssen den Weg zurückfinden zu einer stärkeren direkten Förderung des Materials. Große Förderprogramme zur Entwicklung eines bestimmten Materials oder Materialtyps wie z.B. GaN oder die photorefraktiven Materialien, wie sie in den USA immer wieder aufgelegt werden, existieren bei uns nicht.
Es ergeben sich aus dieser Situation die folgenden Grundsätze einer vernünftigen, an die deutschen Verhältnisse angepassten Förderpolitik, zutreffend auch für die Kristallzüchtung:
- Da die werkstoffrelevante Industrie i.a. nicht vertikal integriert ist, muss die Förderpolitik gezielt die Materialbasis einschließen. Sie muss alle Aspekte, also Werkstoff, Bauelement und System umfassen.
- Der Werkstoff muss als Schlüsseltechnologie gesehen werden, d.h. die Förderung der Materialforschung darf sich nicht kurzfristig an Gewinn- und Arbeitsplatzzahlen am unteren Ende der Wertschöpfungskette orientieren.
- Die Werkstoffforschung muss in besonderer Weise langfristig angelegt sein und Grundlagenforschung mit umfassen.
- Die Werkstoffforschung benötigt einen zeitlichen Vorlauf vor der Bauelement- und Systementwicklung. In dieser Phase kann die Förderpolitik noch keinen vollen Einsatz von Bauelement- und Systemindustrie erwarten.
- Die Förderpolitik darf angesichts des explorativen Charakters der Werkstoffforschung nicht vorzeitig auf einen Partner und ein Verfahren setzen. Entgegen der gängigen Förderpolitik ist auf diesem Gebiet Pluralismus gefragt. Es hat sich in der Vergangenheit immer wieder als ein Fehler erwiesen, dass das BMBF in seiner Förderpolitik nur auf einen Partner setzen will, vor allem dann, wenn es nach gründlicher Prüfung und langem Nachdenken der falsche war. Prof. Eicke Weber hat in der Eröffnungsveranstaltung mit Recht von der positiven Konkurrenz gesprochen, die auch in der Forschung walten muss!
2. Sichtbarkeit und Außenwirkung
Es ist eine wichtige Aufgabe für die Fachgesellschaften, solche Überlegungen zur wissenschaftlichen Förderpolitik zu vertreten und in die öffentliche Diskussion möglichst wirksam einzubringen. Was kann die DGKK dazu beitragen? Nun, die DGKK ist eine der wenigen funktionierenden Fachgesellschaften, aber: Sie ist fein, aber klein. Man braucht in einem System wie der deutschen und mehr noch der europäischen Förderszene, wo ein großes Rad gedreht wird, starke Verbündete. Man muss, wie es so schön heißt, „vernetzt“ sein. Über ihre Vernetzung muss die DGKK nachdenken. Unter diesen Umständen wirkt es sich nachteilig aus, dass es in Deutschland eigentlich keine nationale Materialforschungsgesellschaft gibt. Die DGM (die deutsche Gesellschaft für Materialkunde) hat sich zwar vor etlichen Jahren von dem Namen „Deutsche Gesellschaft für Metallkunde“ verabschiedet, aber inhaltlich ist wenig geschehen, sie kann ihre Herkunft nicht verleugnen. Auch die DVM (Deutscher Verband für Materialforschung und –prüfung) fühlt sich weitgehend den Konstruktionswerkstoffen verpflichtet. Diese Fokussierung auf die Konstruktionswerkstoffe (Stahl, Beton, Leichtbau…) strahlt auch auf eine an sich für uns interessante Institution aus, die acatech (die deutsche Akademie für Technikwissenschaften), die sich unter ihrem Gründer Milberg sehr wirksam als Technologieberater der Regierung in Szene gesetzt hat. Sie hat im Rahmen ihres „Themennetzwerks Materialien“ eine Studie zur Situation der Materialforschung in Deutschland publiziert, in der ich selbst für die Werkstoffe der Elektrotechnik zu Wort gekommen bin, aber der starke Fokus auf die Konstruktionswerkstoff war nicht zu vermeiden.
Unsere „kleine aber feine“ DGKK steht also vor der Frage: Soll sie versuchen, den deutschen Fachgesellschaften eine stärkere Fokussierung auf die Funktionswerkstoffe und ihr eigenes Metier zu geben und über diesen Hebel ihren Einfluss geltend machen, oder soll sie – das ist die Alternative, die ich anspreche – gleich den Weg über Europa gehen?
Wir haben eine recht gut organisierte und funktionierende EMRS. Sie macht durch ihre Tagungen, aber auch durch ihre Publikationsorgane, zunehmend Boden gut gegenüber der amerikanischen MRS. Man hört, dass ihre Stimme in Brüssel etwas gilt, wobei zusätzlich zu bedenken ist, dass die europäischen Programme auch stark rückwirken auf die deutschen des BMBF. Mit der europäischen Förderszene haben freilich die meisten von uns ihre speziellen Erfahrungen gemacht, und wir erleben derzeit eine gewisse Europaskepsis. Es sind eben Partner dabei, und in der Vergangenheit mussten diese beim Erkämpfen von Projekten obligatorisch mitgenommen werden, deren Stärke mehr in der Produktion von Olivenöl und Ouzo liegt. Aber wie es so ist mit Europa: Die Verhältnisse wandeln sich, wenn auch ganz langsam, im Schneckentempo. Denken sie an die Grants des European Research Councils, die nach Leistung und nicht nach Proporz vergeben werden und fast den Prestigestatus der Leibnizpreise errungen haben. Ein ganz neuer Gedanke für die europäische Förderszene! Die Musik wird zunehmend in Brüssel spielen, ob wir das wollen oder nicht. Angesichts der positiven Situation der EMRS und der allgemeinen politischen Entwicklung liegt es für die DGKK nahe, hier, über die EMRS, ihre Hebelwirkung anzusetzen und eine solche anzustreben. Darüber ist nachzudenken. Ich finde es gut, dass Herr Kollege Professor P. Wellmann im Exekutivrat der EMRS aktiv wird.
3. Ausbildung
Neben diesen forschungspolitischen Interessen hat die DGKK auch eine wichtige Aufgabe im Bereich der akademischen Lehre. Sie muss dafür Sorge tragen, dass Kompetenz in ihrem Fach „nachwächst“. Es ist evident, dass in den letzten Jahren die akademische Lehre auf dem Gebiet der Kristallzüchtung in Deutschland einen herben quantitativen Rückschlag zu verzeichnen hat. Ich muss es hier nicht aufzählen, wo an deutschen Universitäten kristallzüchterische Aktivitäten und die zugehörige Lehre verloren gegangen sind, der Blick auf die Tagungsprogramme der Arbeitskreise und der Gesamtgesellschaft zeigt es.
Auch im Bereich der akademischen Lehre stellen sich die beiden Fragen:
Welche Standpunkte soll die DGKK zur Geltung bringen, und
Wie soll sie diese effizient zur Geltung bringen?
Zu beiden Fragen einige Anmerkungen:
Die DGKK muss ein Auge darauf haben, dass die kristallzüchterische Kompetenz an den Universitäten nicht weiter abnimmt, besser sogar wieder zunimmt. Konkret bedeutet dies, dass an einigen Standorten, insgesamt vielleicht dreien oder vieren, Professuren zur Kristallzüchtung erhalten bleiben. Gerade das lässt sich leicht im Auge behalten. Wo sind solche Professuren neu zu besetzten, wo werden materialwissenschaftliche Professuren ausgeschrieben, die gut auch mit Kristallzüchtern besetzt werden könnten? Das kann man ja Jahre voraus verfolgen. Bei der Diskussion über Fortführung oder Schaffung solcher Professuren kann sich die Kristallzüchtung darauf berufen, dass grundsätzliche Fragen der Materialwissenschaft wie die der Strukturbildung der Materie, Transportphänomene an Grenzflächen usw. sozusagen exemplarisch und modellhaft am Fall der Kristallentstehung und des Kristallwachstums dargestellt werden können. Das mag zwar in der Argumentation helfen, grundsätzlich ist aber zu beachten, dass an unseren Universitäten, ob wir das gutheißen oder nicht, Professuren nach der Aktualität des Forschungsgebietes und nicht nach didaktischen Gesichtspunkten besetzt werden. Gerade die Spitzenuniversitäten halten es so. Es kommt also auch hier darauf an, die Bedeutung des Faches hervorzuheben und seine fortdauernde Aktualität sichtbar zu machen. Ich komme darauf gleich in meinem letzten Punkt der Abgrenzung des Faches noch einmal zurück.
Die DGKK wäre aber schlecht beraten, wenn sie nur ihr Fach im engeren Sinne an den Universitäten im Auge hätte, Gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Gewinnung von Verbündeten muss sie auch die Gesamtsituation der Materialwissenschaften mit vertreten. Ich will in diesem Zusammenhang nur auf einen Gesichtspunkt hinweisen, dem man sich widmen muss: Wir haben, nicht erst seit der Etablierung des Bachelor/Mastersystems, aber vermehrt seitdem, einen Wildwuchs an materialwissenschaftlichen Studiengängen, und – schlechter noch – einen Wildwuchs an pseudomaterialwissenschaftlichen Studiengängen. Nicht zuletzt entsteht letzterer dadurch, dass vielerorts an naturwissenschaftlichen Fakultäten aus der Festkörperphysik heraus ein materialwissenschaftlicher Studiengang aufgebaut wird, um den Wünschen der Studierenden nach einer anwendungsorientierten Ausbildung entgegen zu kommen. Günstigstenfalls sind so Studiengänge der „Angewandten Naturwissenschaft“ entstanden. Materialwissenschaften sind aber eine Ingenieurwissenschaft und kein Zweig der Physik und Chemie. Sie gedeihen nur in einem ingenieurwissenschaftlichen Umfeld. Viele Fehlentwicklungen an deutschen Universitäten lassen sich in diesem Sinne analysieren. Von einem solchen Konflikt zwischen naturwissenschaftlicher und ingenieurwissenschaftlicher Sichtweise haben wir auch soeben im Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Fraunhofer THM gehört.
Es ist offensichtlich, dass von dieser Verwechslung zwischen Angewandten
Naturwissenschaften einerseits und einer ingenieurwissenschaftlich geprägten Materialwissenschaft andererseits das Gebiet der Funktionswerkstoffe, und speziell die Kristallzüchtung in besonderer Weise betroffen ist. Letztere muss sich darum auch besonders um diese Klarstellung bemühen, gerade auch im Zusammenhang mit Forschung und Lehre an den Universitäten.
Wenn man sich überlegt, wie nun solche Gesichtspunkte am effizientesten zu vertreten sind, so kommen wir wieder auf den Mangel an einer materialwissenschaftlichen Fachgesellschaft zurück. Europa wird uns an dieser Stelle wenig nutzen, die Bildung ist in Deutschland ja nicht einmal national, sondern föderal organisiert. Ich wundere mich immer, dass es in Deutschland, wenn schon keine materialwissenschaftliche Fachgesellschaft, so wenigstens eine Art Fakultätentag gibt der Art, wie sie im Bereich von Elektrotechnik, Maschinenbau und anderen technischen Fächern in der einen oder anderen Form sehr effizient bei der Formulierung der akademischen Lehre in Erscheinung treten. Ein Fakultätentag „Werkstoffe“, vielleicht wäre das auch eine Stoßrichtung für die DGKK!
Wenn die DGKK darüber nachdenkt, wie sie ihr wissenschaftliches Gewicht erhalten und erhöhen kann, muss sie natürlich auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Wissenschaft sich ständig wandelt und weiterentwickelt. Auch eine Gesellschaft wie die DGKK muss die Reichweite ihres Fachgebiets, seine Abgrenzung immer neu überdenken. Dazu zwei Gedanken:
4. Fachliche Abgrenzung:
Ich denke, die DGKK ist auf dem richtigen Wege, wenn sie sich zunehmend das Thema „Nanopartikel“ zu Eigen macht, und zwar ausdrücklich nicht nur, um in einem mächtigen Strom mitzuschwimmen. Dieser existiert zweifellos. Im Rahmenprogramm des BMBF hat das Thema Nanopartikel einen sehr hohen Stellenwert, ebenso in den europäischen Programmen. Eine Einbeziehung in die Programmatik der Kristallzüchtung ist aber auch unter sachlichen, wissenschaftlichen Gesichtspunkten ganz und gar gerechtfertigt. Grundfragen der Kristallzüchtung und des Kristallwachstums, wie Keimbildung, Stabilitätsfragen, Transport an und über die Grenzflächen begegnen uns in der Wissenschaft von den Nanopartikeln in Reinkultur. Allein das Thema, welche Phasen eines Kristalls in Nanodimensionen stabil werden, und welches ihre Eigenschaften sind, kann die Materialwissenschaften generationenlang beschäftigen! Es ist goldrichtig, dass das IKZ in Berlin die Nanopartikel in sein Arbeitsprogramm aufgenommen hat. Es ist noch hinzuzufügen, dass die Hybridsysteme, Nanopartikel in einer Matrix, und die begleitenden wissenschaftlichen Fragen mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Die DGKK sollte sich gezielt und verstärkt um die Nanopartikel kümmern!
Ein zweiter Punkt zur inhaltlichen Definition der Kristallzüchtung geht mir aufgrund meines persönlichen Werdegangs, der von den Verbindungshalbleitern zu den Materialien der organischen Elektronik führte, oft durch den Kopf. Ich darf ihn am Schluss anfügen. Man soll, man muss sich grundsätzlich einmal fragen: Wohin gehören eigentlich die organischen Halbleiter? Die hohe Bedeutung des Gebietes in der aktuellen Materialforschung ist evident, die acatech hat übrigens gerade auch eine vielbeachtete Stellungnahme zur Situation der organischen Elektronik in Deutschland abgegeben. Nun ist ja das, was beim Aufdampfen organischer Moleküle auf ein Substrat entsteht, oder das, was beim Abscheiden von Polymeren aus der Lösung entsteht, etwas deutlich anderes als ein Kristall. Und doch: ich sehe im Geschehen auf dem Gebiet der Organischen Elektronik eine folgerichtige Fortsetzung der Entwicklung der Verbindungshalbleiter. Die Materialien der organischen Elektronik definieren sich ganz stark über ihren Ordnungsgrad, der von der reinen Nahordnung wie beim a-Si bis zu kristallinen Phasen reicht. Diese Morphologie bestimmt entscheidend die elektronischen Eigenschaften, die sich – sehr einfach formuliert – häufig aus dem Abstand von der reinen Kristallinität des Materials ergeben. Hinzu kommt, dass auch in diesem Bereich die Hybridsysteme aus organischen und anorganischen Halbleitern immer wichtiger werden, und dass die Charakterisierungsmethoden beider Felder eng verwandt sind. Die DGKK sollte schon darüber nachdenken: Wohin gehören eigentlich die organischen Halbleiter?
Ich fasse zusammen:
- Auch die Fortschritte in der Kristallzüchtung sind der Motor von technisch und ökonomisch wichtigen Innovationen.
- Angesichts der Industriestruktur in Deutschland ist eine gezielte Förderung der Material-FuE erforderlich. Ein integrativer Ansatz (nach Art der aktuellen BMBF-Strategie) erfasst die Materialbasis des Innovationsprozesses nur ungenügend und wird daher der Bedeutung der Neuen Materialien als Basistechnologie nicht gerecht. Eine wirksame Förderpolitik muss davon ausgehen, dass in der deutschen Industriestruktur Entwicklung und Herstellung neuer Funktionsmaterialien für Elektronik, Optik und Sensorik in der Regel nicht oder nur nach langer Vorlaufzeit rentabel sein können.
- Die wissenschaftlichen Gesellschaften im Bereich der Werkstoffkunde sind einseitig auf Konstruktionswerkstoffe ausgerichtet. Hier sind Ergänzungen in der programmatischen Ausrichtung der Gesellschaften erforderlich. Daran muss die DGKK mitwirken. Soll dies auf nationaler Ebene überhaupt versucht werden, oder soll dies gleich auf der europäischen Ebene geschehen?
- Im Bereich der akademischen Lehre ist ein gewisser „Wildwuchs“ bei den materialwissenschaftlichen Studiengängen eingetreten, Zur Klärung empfiehlt sich u.U. ein „Fakultätentag Werkstoffe“.
- Die DGKK muss über ihre „Reichweite“ nachdenken. Welche neuen Gebiete muss sie aufgreifen und in ihr Selbstverständnis aufnehmen?
- Die DGKK, als eine kleine, aber als eine der wenigen funktionierenden Gesellschaften auf dem Gebiet der Funktionsmaterialien kann eine wichtige Rolle in der Formulierung einer Wissenschaftspolitik in Forschung, Entwicklung und Lehre übernehmen, wenn sie eine klare und überzeugende Programmatik entwickelt.
Ich hoffe, dass diese Überlegungen dazu einen kleinen Beitrag liefern können.
[1] Prof. Dr. Peter Rudolph, Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ) Berlin